Unsere Ausstellung fügt sich ein in einen größeren Ausstellungskontext, der vom Mindener Museum im Verbund mit der OWL-Museumsinitiative im laufenden Jahr durchgeführt wurde und der sich mit den verschiedenen Aspekten des Körpers, der Leiblichkeit des Menschen befasst hat. Hier im Mindener Museum war der Blickpunkt auf den Aspekt Körperpflege / Hygiene gerichtet und aus dieser Ausstellung haben wir einige Objekte in unsere eigene Ausstellung eingebracht, um die Verbindung zu diesem allgemeinen Kontext bewusst zu machen (aber auch, weil uns diese Objekte gefallen haben und wir der Meinung sind, dass man sie auch unter skulpturalen Aspekten betrachten kann, nicht nur als kulturhistorische Exemplare).
Unser Ausstellungstitel sollte neugierig machen: Fig.H/C_Gestalt finden, was soll das eigentlich bedeuten? Das ist einfach und kompliziert zugleich. Die einfache Erklärung lautet: Fig. H/C bedeutet zunächst ganz schlicht die menschliche Figur in ihrer Gänze von Kopf bis Fuß, vom Haar bis zum Zeh, also von H bis C in poetisch-phonetischer Annäherung. Gestalt finden bezieht sich auf den künstlerischen Formfindungsprozess. Aber das ist nur die Oberfläche des Titels, darunter liegen weitere Schichten der Bedeutungsentfaltung, die ich hier nicht erschöpfend darlegen, aber doch anhand der ausgestellten Arbeiten ein wenig erschließen kann.
Als wir über die Möglichkeiten eines künstlerischen Ausstellungsbeitrags zum Thema Körper diskutiert haben, standen wir schnell vor der Frage, was eigentlich unser eigener Zugriff sein könnte. Das Thema ist ja sowohl gesellschaftlich als auch kunsthistorisch in fast unabsehbarer Weise präsent, dazu kann jeder etwas sagen und jeder hat dazu seine Bilder vor Augen. Der menschliche Körper ist Thema der Kunst von Beginn an – man kennt die steinzeitlichen Figurinen wie die sog. Venus von Willendorf. Seit über zwanzigtausend Jahren wird das Thema also bearbeitet. Müssen wir dem etwas hinzufügen?
Aber genauso stellt sich die Frage: können wir es unterlassen? Die Auseinandersetzung mit der eigenen Leiblichkeit und mit der gesellschaftlichen Sicht auf die Leiblichkeit ist ja unausweichlich und wird daher immer Thema der Selbstbetrachtung des Menschen bleiben – und damit auch Thema der Kunst. Stets eröffnet sich dabei ein Betrachtungs- und Bewertungsfeld zwischen Lust und Last, zwischen Bewunderung und Problembeschau.
Dabei wird die Seite der genussvollen Körpererfahrungen heute meinem Eindruck nach mehr in anderen gesellschaftlichen Sektoren zur Geltung gebracht als auf dem Feld der Bildenden Kunst. Hier herrscht die Problematisierung vor. Die Feier der menschlichen Wohlgestalt dagegen, wie sie die griechische Klassik hervorgebracht hat und wie sie von den Künstlern der Renaissance aufgegriffen worden ist, scheint heute mehr in der Nische traditioneller fotografischer Konzepte, in der Werbung und in manchen filmischen Genres fortzubestehen als in den avancierten künstlerischen Hervorbringungen.
Wenn nicht Bekanntes wieder aufgelegt werden soll, öffnet sich als neuer Fragehorizont vor allem die Frage nach der Zukunft des Körpers. Was wird aus unserer Körperlichkeit angesichts der mächtigen Tendenz zur Entkörperlichung in der unaufhaltsam wachsenden digitalen, virtuellen Welt? Welche strahlenden Avatare werden uns dort vertreten, während unser real existierender Organismus sich zurückbildet oder zumindest verformt? Oder was wird aus unserer Körperlichkeit angesichts der verlockenden Ergänzungs- und Steigerungsmöglichkeiten durch plastische Chirurgie oder durch technisch brillante Prothesen und elektronische Implantate. Nachrichten z.B. aus Schweden machen deutlich, dass der Weg zum Cyborg, zur Mensch-Maschine-Kombination, in kleinen oder vielleicht auch gar nicht so kleinen Schritten, schon vollzogen wird. Wie zu hören ist, sind nicht wenige dort schon Träger eines subkutanen elektronischen Datenträgers mit Sendefunktion, der z.B. den Hausschlüssel ersetzt, weil der Schließmechanismus der Tür durch diesen Datenchip aktiviert wird. – Und welche ungeahnten Möglichkeiten wird die Gentechnologie uns noch bescheren, wenn heutige kritische Distanz und Abgeneigtheit allmählich erodiert und künftig womöglich als anachronistische Ängstlichkeit abgetan wird?
Das Thema bleibt und ist immer aufs Neue aktuell – wie alle zentralen Themen der Kunst.
“Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist?” (1.Kor 6,19), fragt der Apostel Paulus seine ex-heidnische Zuhörerschaft. Aber von seinem eigenen Körper spricht er im Klageton: “Wer wird mich erlösen von diesem Todesleib?” (Röm. 7,24). Das sind die Extrempunkte. Dazwischen spielt sich alles ab, was unsere Leiblichkeit betrifft.
Welche Zugänge zum Thema zeigen nun die hier ausgestellten Arbeiten?
Die Bedrohtheit des Zuhauseseins im eigenen Körper, des Einverstandenseins mit der eigenen Körpergestalt durch die massenmedial unablässig präsentierten Idealtypen greifen die Arbeiten von Bettina Bollmann-Koch und Birgit Oldenburg auf. Die Problematik von Magersucht und Bullimie, die unsere Gesellschaft seit den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts begleitet und trotz aller therapeutischen Programme und wissenschftlichen Studien dazu von einer Lösung weit entfernt zu sein scheint, wird in den Arbeiten einerseits ungeschönt, zugleich aber ohne Effekthascherei vor Augen gestellt. Bettina Bollmann-Koch stellt der angegriffenen Körpergestalt ihres weiblichen Torsos die Natürlichkeit des Steins bildhauerisch gegenüber und versteht diese Natürlichkeit als Resource für eine mögliche Überwindung der körperlich ausgetragenen Selbstverneinung. Birgit Oldenburg zeigt die extremen Pendelausschläge verlorengegangener Kontrolle über die eigene Körperwahrnehmung und über die Bedürfnisse des Körpers. Ihre malerische Umsetzung der Thematik beschränkt sich auf eine reduzierte, andeutende Bildsprache, die im Betrachter die dazugehörigen drastischen Bilder aufruft, ohne diese noch einmal pathetisch zu wiederholen.
Die Wachscollage von Ursula Gebert geht auf die Überforderung unserer Außen- und Selbstwahrnehmung durch Beschleunigungsprozesse ein, die unseren Alltag und unsere Kommunikationsweise bestimmen. Trotz der vielbeschworenen “Entdeckung der Langsamkeit” sind es doch eher Erfahrungen schneller Veränderungen und kurz getakteter Alltagsrhythmen, die auf das Lebensgefühl durchschlagen. Drohender Selbstverlust, Aufweichung der Abgrenzungsmöglichkeiten und die damit verbundenen Erfahrungen von Desintegration werden durch eine Bildgestaltung vermittelt, in der die figurativen Elemente sich mühsam gegen Strukturen der Überlagerung und Auflösung behaupten. Das hat auch seinen Reiz und seine Schönheit, aber man spürt die Gefährdung und das Angegriffensein.
Magret Thimm hat zwei Bilder beigetragen, die auf das Verhältnis von Kleidung und Körper eingehen. Das Kleid, die Robe, als feierliche Inszenierung und Steigerung des Körperbildes, zugleich auch als auferlegte Erwartung und Konvention, zeigt das eine Bild. Die Ambivalenz der Empfindung gegenüber diesem Attribut ästhetisch codierter Weiblichkeit ist an den Kratzspuren und malerischen Überlagerungen erkennbar, die den Erstellungsvorgang des Bildes vermitteln. Das Kleid ist schön und sorgt für bella figura; trotzdem muss man mit dem Dresscode ins Reine kommen. Passt mir das Kleid?
Beim anderen Bild mit dem Titel “Korsett” erwartet man eine Abrechnung mit dem Zwangstextil, der üblen Körpereinschnürung, der Unterdrückung der natürlichen Gestalt nach dem Prägemuster eines künstlichen Ideals. Gezeigt wird aber eine helle, heitere Figuration in freundlichen Farben. Die Fülle an Farbnuancen, Strukturen, Oberlächenreizen lädt zur eingehenden Erkundung des visuellen Feldes ein – ohne Ablehnung oder gar Empörung. Die Korsettform ist erkennbar, hat aber nichts Gewaltsames. Aber dann wird es einem klar: das Ding ist aufgeschnürt und abgelegt. Jetzt kann man damit spielen.
Auch bei der Bildserie von Birgt Rehsies ist das Korsett das zentrale Bildmotiv, allerdings in einer milderen, nicht so sehr im Dienste der Einschnürung stehenden Variante. Zu den auf Schaufensterpuppen gezogenen Korsetts treten Worte, fragmentierte Bildelemente und transparente Farbschichten und -strukturen hinzu. Das Korsett wirkt hier als erotischer eye-catcher, durch die Reihung wird es angeboten wie ein Warenobjekt, dessen Kauf die im Umfeld aufscheinenden Erlebnismöglichkeiten in Aussicht stellt. Zwei Bilder fallen aus der Reihe, sie zeigen Männerbeine in männertypischen Standpositionen. Die Männer sind nur halb erfasst, dadurch anonym; sie stehen einfach da, wie Männer eben so stehen. Der Titel “alle anders – alle gleich” kann sich sowohl auf die Korsett-Torsi wie auf die Männer beziehen.
Jessica Koppes Animationsfilm spannt den Bogen unterschiedlicher Aspekte der Körperlichkeit denkbar weit, indem sie die Altersstufen vom Kind zum Greis, die Reifungs-, Umformungs- und Alterungsprozesse komprimiert vor Augen stellt und die Metamorphosen quer zu den Geschlechtergrenzen sich vollziehen lässt. Der Blick wird von der Vollgestalt des Körpers zu Grenzlinien und Details geführt – und wieder zurück zum Körperganzen, das sich stets auf’s Neue verändert. Der Blick kommt nicht zur Ruhe, wie auch der lebendige Zyklus von Entstehung und Umformung nicht zur Ruhe kommt. All das sehen wir durch ein rundes Fenster wie durch das Okular eines Beobachtungsinstruments. Sind wir Forscher, die den Verlauf eines Experiments verfolgen?
Ebenfalls einen animierten Ablauf von Körperszenarien zeigt uns Christoph Carbenay mit seiner Apparatur zum Betrachten handgemachter analog-zeichnerischer Filmrollen. Hier wird bewusst auf Entschleunigung gesetzt und auf “old school”-Verfahren, die der Materialität von Papier, Tinte, Tusche usw. Rechnung tragen. Die Bildsprache ist fabulierend, teilweise barock, teilweise surreal, handschriftlich-persönlich, vermittelt visuelle und taktile Reize, ist irdisch-konkret und dann plötzlich kosmisch entrückt. Körperformen werden mit der zeichnerischen Linie eingegrenzt, lassen sich das aber nicht gefallen und stülpen sich plötzlich aus, verformen sich, und manchmal verflüchtigen sie sich auch. Ein Film ist in den Apparat eingelegt; hier wird die Betrachtung in eine Abfolge gebracht, die ausschnitthaft Einblicke bietet, die der Betrachter im Geiste verknüpfen muss. Die Ersatzfilme sind als Bildstreifen an die Wand gehängt.
Inge Dietrichs Objekt Hautschichtungen fokussiert die Körpererfahrung auf die Nahtstelle von Außen- und Innenwelt, die Haut mit ihrem komplizierten Aufbau und dem darin eingefassten empfindlichen Sensorium. Die Haut ist aber nicht nur Hülle und Sinnesorgan, sie ist auch Kommunikationsfläche und insofern auch Akteur im Raum. “Haut erneuert sich, Haut atmet, Haut umhüllt, Haut schützt, Haut pellt, Haut errötet, Haut bräunt, Haut verbrennt” schreibt Inge Dietrich unter der Überschrift Hautgedanken zu ihrer Arbeit.
Um Haut als Kontaktfläche geht es auch bei dem kleinformatigen Objekt von Gunnar Heilmann und Ulrich Kügler. Es besteht aus einem Ton-Wachsgemisch und bildet in hyperrealistischer Form den Zwischenraum ab, der sich zwischen zwei Händen, die zum Handschlag zusammengefügt sind, befindet. Die Handinnenflächen liegen dabei nicht vollständig aneinander, sondern es bleiben Hohl- und Zwischenräume, die man mit plastischem Material sichtbar machen kann. Die plastische Form ist zugleich so ungezwungen-selbstverständlich und dabei so unberechenbar kompliziert, dass man darüber ins Staunen gerät. Auch der Umschlag des Hohlraums in eine solide Form trägt zur Faszination bei. An der Oberfläche der Form sind die Hautlinien erkennbar – ebenfalls im Austausch von Positiv- und Negativform. Allein kann man diese spezielle Form nicht hervorbringen. Es braucht dazu zwei rechte (oder linke) Hände. Aus diesem Grund ist das Objekt nicht nur ein interessantes plastisches Phänomen, sondern zugleich mit Bedeutung aufgeladen – ein Zeichen der Künstlerfreundschaft von Gunnar Heilmann und Ulrich Kügler.
Isolde Merker hat eine fast lebensgroße Figur aus Papierscheiben erstellt. Diese werden mit dünnen Drähten zusammengehalten, die den Körper von Kopf bis Fuß, von H bis C durchlaufen. Die Fragilität des Gebildes ist der erste Eindruck. Und doch behauptet es sich als plastischer Körper im Raum. Die fast unsichtbaren Drähte sorgen für den Zusammenhalt und das aufrechte Stehen der Figur. Sie sind die Energiebahnen, ohne die der Körper nur Materie wäre, Materie, die ihre Form nicht von sich aus bewahren kann. Oben, am Scheitelpunkt, gibt es einen Energieüberschuss: die Drähte treten aus der Körperform heraus und streben entfesselt in den Raum. Die Energieströme halten den Körper in Form, sind aber nicht an diese Formgrenzen gebunden.
Das Gemälde von Adelheit Schöpfer mit dem Titel Schattengestalt zeigt eine menschliche Figur in schemenhafter Reduktion vor dunklem Grund. Der Farbauftrag ist transparent, fast immateriell; die Figur scheint zu verblassen, sie ist im Schwinden, sie schreitet davon. Sie geht auf eine Bildzone zu, die hell, fast reinweiß ist. Während die Dunkelzone noch materiell spürbar, substanzhaft ist, lässt sich über die helle Zone keine bestimmte Aussage mehr treffen. Geht die Schattengestalt ins Licht oder ins Nichts?
Rosemarie Sprute hat dagegen die volle, schwere Körperlichkeit von Sumo-Ringern zum Motiv gewählt. Die durchtrainierte Kraft dieser Körper ist für den Kenner sichtbar, der Laie sieht vor allem das ausufernde Fleisch. Und doch ist der Sumo-Ringkampf, wie man weiß, eine mindestens ebenso sehr geistige wie körperliche Auseinandersetzung. Darüber hinaus ist der Sumo-Ringkampf eine stark ritualisierte Handlung, die über das bloße sportliche Kampfgeschehen weit hinausreicht. Die vorbereitenden Bewegungsabläufe sind von geradezu zeremonieller Bedeutung. Rosemarie Sprute verliert sich dementsprechend nicht in der Fleischbeschau, sondern bindet die Körperlichkeit in die Bildfläche durch malerische Prozesse des Auftragens und Abschabens von Farbschichten, durch konturierende Pinselstriche und Kratzspuren in die noch feuchte Farbe und durch subtile Mustereinprägungen in einigen Farbzonen. Dies lässt die “Kultsprache der Körper stärker hervortreten”, sagt Rosemarie Sprute zu ihrer Arbeit.
Bernhard Sprute hat zur Ausstellung abstrakte Bilder beigesteuert. So sieht es jedenfalls aus. Die Bildstrukturen scheinen aus einem rein malerischen Gestus zu erwachsen. Die Titel machen aber die Verbindung zum Thema der Ausstellung deutlich: Nach Querschnitt Nierengewebe, nach Querschnitt Arterie, Nach Schnittpräparat Nierenrinde heißen die Bilder. Sie greifen also medizinisch-wissenschaftliche Darstellungen von Gewebestrukturen auf, die demnach denselben Realitätsgrad beanspruchen können, wie Bilder von der Außenseite des Körpers. Sie sind aber der unmittelbaren Sichtbarkeit entzogen und wirken daher “abstrakt”. Bernhard Sprutes Malerei erstellt aber nicht überdimensionale Illustrationen dieser organischen Präparate, sondern er lässt sich von Form- und Struktureigenschaften der medizinischen Lehrbilder anregen, die seiner eigenen, langjährig erarbeiteten malerischen Bildauffassung nahekommen. Die Formkonglomerate, Strukturen, Rhythmen und Farben können auch motivunabhängig als informelle malerische Erlebnisfelder betrachtet und genossen werden. Durch ihre Bezüge zu realen organischen Gegebenheiten unserer körperlichen Innenwelt erlangen sie aber eine zusätzliche Verankerung in unserer physisch-realen Lebenssphäre und eröffnen ein inhaltliches Assoziationsfeld, das uns unmittelbar angeht, weil es buchstäblich unter die Haut geht.
In diesem direkten Sinne unter die Haut gehen auch die beiden Bilder von Friedgund Lapp, die innere Organe des Menschen motivisch aufgreifen und in freier spielerischer Formentwicklung zu reich differenzierten Bildkonstrukten zusammenfügen. Mit dem Skalpell schneidet Friedgund Lapp aus Röntgenbildern und aus anderen flach reliefierten Materialien ihre Formelemente aus, die zwischen abbildhafter Annäherung und freier Erfindung die Balance halten. Da ist auch Humor im Spiel, wenn z.B. die zeichenhafte Darstellung eines Lungenflügels mit einer Netzstruktur zusammentrifft, die man vom Apfelsineneinkauf kennt. Das ist jedoch ein ernstes Spiel, was durch die konzentrierte bildnerische Form vermittelt wird, die alle Bildsetzungen einer eher strengen, auf Prägnanz ausgerichteten Bildform einfügt.
Auch meine eigenen Arbeiten sind auf diese Innensicht, den Blick unter die geschlossene Oberfläche des Körpers gerichtet. Die Röntgenaufnahmen sind der Beginn dieses teils heilsamen, teils irritierenden Eindringens in die Integrität des Körpers. Die medizinischen Fortschritte, die mechanische Implantate bis hin zum Kunstherz erlauben, sind bewundernswert und gewiss zu begrüßen, sie verändern aber auch objektiv unser Verständnis von dem, was ein Organismus, ein Leib, eine Leib-Seele-Ganzheit ist. Die Tendenz zur Körpererweiterung, Körperaufrüstung und Körpertransformation, die durch elektronische Implantate und ausgefeilte Prothetik heute schon möglich ist, zugleich aber wohl erst der Anfang von viel weitreichenderen Entwicklungen, hat eine Doppelgesichtigkeit, die es meiner Meinung nach unmöglich macht, diese Entwicklungen einfach fortschrittsoptimistisch zu begrüßen. Es ist zur Zeit viel vom posthumanen Zeitalter die Rede, in das wir bereits eingetreten seien. Das umfasst natürlich viel mehr als nur die körperlichen Manipulationen, die aber als ein starkes Symptom dafür betrachtet werden können.
Ich glaube, ich bin für ein posthumanes Zeitalter nicht geeignet, jedenfalls nicht, wenn es Humanität nicht mehr zulässt. Das geht vermutlich vielen so. Kunst kann hier nicht unmittelbar steuernd eingreifen, aber sie kann Entwicklungen reflektieren und kommentieren, die eigenen Einschätzungen und Empfindungen klären und zum Ausdruck bringen. Insofern nimmt sie Teil am gesellschaftlichen Prozess, der im Hinblick auf unser Thema nie abgeschlossen sein wird. In diesem Sinne ist unsere Ausstellung nicht mehr und nicht weniger als ein Schlaglicht auf das Thema – aus der Sichtweise von Künstlern, die hier im Kreis leben und arbeiten und sich als Zeitgenossen äußern.
Hartwig Reinboth